Thomas Mattig, Direktor Gesundheitsförderung Schweiz und Autor von "Healthy Economy" und "Gesundheit braucht Freiheit"
Auszug aus seinem Buch "Healthy Economy - neue Denkformen für eine gesunde Wirtschaft"
Der Eigene Schuh
Die Reise nach Brienz gleicht einer Reise in die Vergangenheit. Am besten, man besteigt in Interlaken den Salon-Raddampfer "Lötschberg". Zu bewundern gibt es mattglänzendes Mobiliar, schimmerndes Messing und die blitzende Mechanik der Dampfmaschine, die das neunzigjährige Schiff antreibt.
Brienz. Als erstes fallen einem die reichverzierten Holzhäuser auf. Am Seeufer macht eine Holzskulptur auf die Holzschnitzerschule im oberen Dorfteil aufmerksam. Dort befindet sich auch die weltbekannte Geigenbauschule.
Unser Ziel ist aber keine Holzwerkstatt, sondern eine Schuhmacherei. Durch die enge Hauptstrasse zwängt sich der Verkehr. Man geht auf dem schmalen Trottoir, bis man an ein Schaufenster mit der Aufschrift "Zwickmühle" kommt.
Das ist Franz Kälins Schuhmacherwerkstatt. Gleich gegenüber auf der anderen Strassenseite ein Velo-Motogeschäft. Keine blitzenden Mountain-Bikes stehen dort in der Werkstatt, sondern gute alte schwarze Velosolex. Dieses Mischwesen aus Fahrrad und Töffli ist doch schon längst ausgestorben, denkt man. Nein, ist es nicht. Velosolex- Fans aus der ganzen Schweiz bringen ihre alten Gefährte zum pensionierten Velomechaniker nach Brienz.
Und die Schuhmacherwerkstatt - ist sie ein Relikt aus vergangenen Zeiten?
Wir treten zur Tür herein. Der Raum ist voll, voll von Menschen, voll von Leder, das sich bis unter die Decke stapelt. An U- förmig angeordneten Tischen sitzen sechs Frauen und zwei Männer, sie haben ein Stück Leder vor sich, das einen Schuh erahnen lässt, und hantieren mit Nadeln, Zangen und Hämmerchen.
Vorn in der Mitte Schuhmachermeister Franz Kälin. Einzelne Kursteilnehmer gehen bei ihm vorbei, lassen sich beraten. Obschon die Stimmung locker ist, arbeiten alle konzentriert an ihren Schuhen. Ein Hund streicht durch die Werkstatt, legt sich mitten im Raum auf den Boden.
An der Wand hängt ein Diplom: "Eidgenössischer Schuhmacher- Meister".
Bereits der Vater von Franz Kälin war Schuhmacher. "Es dauerte etwa zehn Jahre, bis ich realisierte, was ich mit diesem Beruf für ein Geschenk mitbekommen habe".
Ein Beruf, der statistisch am Verschwinden ist: In der Schweiz absolvieren gegenwärtig rund fünfzig Lehrlinge die Ausbildung zum Schuhmacher. Die meisten von ihnen werden als Orthopädieschuhmacher arbeiten. Der letzte Industrieschuhmacherlehrling hat seine Ausbildung bei der Kandahar Schuhfabrik in Gwatt abgeschlossen. Wer Industrieschuhmacher werden will, muss ins Ausland gehen, nach Deutschland oder nach Italien.
"Was das Handwerk angeht", sagt Franz Kälin, "ist die Schweiz ein Entwicklungsland.
Es gibt immer weniger Leute, die ein Handwerk noch richtig beherrschen. Früher war das Handwerk sehr verbreitet. Erfolgreich war, wer zum Handwerk auch noch gute Ideen hatte. Heute ist es umgekehrt: Viele Leute haben gute Ideen, aber der rare Artikel ist das handwerkliche Können."
Hier leistet Franz Kälin mit seinen Kursen Entwicklungshilfe. "Wenn unser Handwerk überleben soll, dann kann es nicht nur über das Produkt überleben, sondern es muss Werte und Erlebnisse vermitteln".
Als ausgebildeter Sozialpädagoge hat Franz Kälin noch ein zweites berufliches Standbein. In einer Teilzeitanstellung arbeitet er in den psychiatrischen Diensten als Leiter einer Tagesstätte.
"Wenn es nur um das Produkt Schuhe geht, bin ich zu hundert Prozent Schuhmacher. Aber die beiden Berufe haben Berührungspunkte. Denn wenn es darum geht, gemeinsam etwas zu erarbeiten, zeigt sich der soziale Aspekt des Handwerks".
Franz Kälin unterscheidet drei Grundtypen von Kursbesuchern: Die einen kommen wegen des Handwerks. Sie wollen wissen, wie ein Schuh gemacht wird. Die anderen kommen, weil sie eine ganz bestimmte Vorstellung davon haben, wie ihr Schuh aussehen muss. Und die dritten kommen, weil sie endlich einen Schuh haben möchten, der ihren Füssen entspricht. Denn Fabrikschuhe, sagt Franz Kälin, passten perfekt zu vielleict dreissig Prozent der Leute. Weitere drissig bis vierzig Prozent würden sich mit dem Tragen an ihre Schuhe gewöhnen. Und zwanzig bis dreissig Prozent der Leuite würden nie einen Schuh passenden Schuh finden, weil ihre Fussform zu selten sei für die industriell hergestellten Schuhe.
Acht Leute kommen zusammen und produzieren einen handgefertigten, eigenen Schuh. Das Produkt ist höchst individuell, jeder Schuh ein Unikat. Der Weg dahin, das Lernen ist gemeinsam. Dazu gehören auch die Pausen, das Mittagessen, das die Gruppe selber organisiert, der Gedankenaustausch während der Arbeit.
Lebensqualität und Arbeit gehören für Franz Kälin zusammen. "Für mich lautet die Frage nicht: Wie viele Stunden arbeite ich? Sondern: Ist es Arbeit oder ist es Leben? Wenn es Leben ist, macht es nichts, wenn es sechzig Stunden sind..."
Was nicht heisst, dass Franz Kälin sechzig Stunden in der Werkstatt verbringt. Vor dem Fenster liegt der See, dahinter die Berge.
"Kürzlich habe ich auf einer Skitour einen wunderbaren Ahornbaum angeschaut. Unten die weit ausladenden Äste, oben die schön geformte Krone. Ich habe mir überlegt: Wie ist das bei uns, in unseren Schulen? Musik - und Werkunterricht sind an den Rand gedrängt, werden gestrichen. Wir schneiden die untersten Äste ab und lassen oben, wo der Kopf ist, ein Krönlein stehen. Ein Baum sähe fürchterlich aus, wenn er so beschnitten würde."
Draussen auf der Terrasse vor dem Atelier wird das Mittagessen aufgetragen. Manche Kursteilnehmer sind so in die Arbeit versunken, dass sie sich nur langsam von ihrem Tisch lösen.
Auszug aus seinem Buch "Healthy Economy - neue Denkformen für eine gesunde Wirtschaft"
Der Eigene Schuh
Die Reise nach Brienz gleicht einer Reise in die Vergangenheit. Am besten, man besteigt in Interlaken den Salon-Raddampfer "Lötschberg". Zu bewundern gibt es mattglänzendes Mobiliar, schimmerndes Messing und die blitzende Mechanik der Dampfmaschine, die das neunzigjährige Schiff antreibt.
Brienz. Als erstes fallen einem die reichverzierten Holzhäuser auf. Am Seeufer macht eine Holzskulptur auf die Holzschnitzerschule im oberen Dorfteil aufmerksam. Dort befindet sich auch die weltbekannte Geigenbauschule.
Unser Ziel ist aber keine Holzwerkstatt, sondern eine Schuhmacherei. Durch die enge Hauptstrasse zwängt sich der Verkehr. Man geht auf dem schmalen Trottoir, bis man an ein Schaufenster mit der Aufschrift "Zwickmühle" kommt.
Das ist Franz Kälins Schuhmacherwerkstatt. Gleich gegenüber auf der anderen Strassenseite ein Velo-Motogeschäft. Keine blitzenden Mountain-Bikes stehen dort in der Werkstatt, sondern gute alte schwarze Velosolex. Dieses Mischwesen aus Fahrrad und Töffli ist doch schon längst ausgestorben, denkt man. Nein, ist es nicht. Velosolex- Fans aus der ganzen Schweiz bringen ihre alten Gefährte zum pensionierten Velomechaniker nach Brienz.
Und die Schuhmacherwerkstatt - ist sie ein Relikt aus vergangenen Zeiten?
Wir treten zur Tür herein. Der Raum ist voll, voll von Menschen, voll von Leder, das sich bis unter die Decke stapelt. An U- förmig angeordneten Tischen sitzen sechs Frauen und zwei Männer, sie haben ein Stück Leder vor sich, das einen Schuh erahnen lässt, und hantieren mit Nadeln, Zangen und Hämmerchen.
Vorn in der Mitte Schuhmachermeister Franz Kälin. Einzelne Kursteilnehmer gehen bei ihm vorbei, lassen sich beraten. Obschon die Stimmung locker ist, arbeiten alle konzentriert an ihren Schuhen. Ein Hund streicht durch die Werkstatt, legt sich mitten im Raum auf den Boden.
An der Wand hängt ein Diplom: "Eidgenössischer Schuhmacher- Meister".
Bereits der Vater von Franz Kälin war Schuhmacher. "Es dauerte etwa zehn Jahre, bis ich realisierte, was ich mit diesem Beruf für ein Geschenk mitbekommen habe".
Ein Beruf, der statistisch am Verschwinden ist: In der Schweiz absolvieren gegenwärtig rund fünfzig Lehrlinge die Ausbildung zum Schuhmacher. Die meisten von ihnen werden als Orthopädieschuhmacher arbeiten. Der letzte Industrieschuhmacherlehrling hat seine Ausbildung bei der Kandahar Schuhfabrik in Gwatt abgeschlossen. Wer Industrieschuhmacher werden will, muss ins Ausland gehen, nach Deutschland oder nach Italien.
"Was das Handwerk angeht", sagt Franz Kälin, "ist die Schweiz ein Entwicklungsland.
Es gibt immer weniger Leute, die ein Handwerk noch richtig beherrschen. Früher war das Handwerk sehr verbreitet. Erfolgreich war, wer zum Handwerk auch noch gute Ideen hatte. Heute ist es umgekehrt: Viele Leute haben gute Ideen, aber der rare Artikel ist das handwerkliche Können."
Hier leistet Franz Kälin mit seinen Kursen Entwicklungshilfe. "Wenn unser Handwerk überleben soll, dann kann es nicht nur über das Produkt überleben, sondern es muss Werte und Erlebnisse vermitteln".
Als ausgebildeter Sozialpädagoge hat Franz Kälin noch ein zweites berufliches Standbein. In einer Teilzeitanstellung arbeitet er in den psychiatrischen Diensten als Leiter einer Tagesstätte.
"Wenn es nur um das Produkt Schuhe geht, bin ich zu hundert Prozent Schuhmacher. Aber die beiden Berufe haben Berührungspunkte. Denn wenn es darum geht, gemeinsam etwas zu erarbeiten, zeigt sich der soziale Aspekt des Handwerks".
Franz Kälin unterscheidet drei Grundtypen von Kursbesuchern: Die einen kommen wegen des Handwerks. Sie wollen wissen, wie ein Schuh gemacht wird. Die anderen kommen, weil sie eine ganz bestimmte Vorstellung davon haben, wie ihr Schuh aussehen muss. Und die dritten kommen, weil sie endlich einen Schuh haben möchten, der ihren Füssen entspricht. Denn Fabrikschuhe, sagt Franz Kälin, passten perfekt zu vielleict dreissig Prozent der Leute. Weitere drissig bis vierzig Prozent würden sich mit dem Tragen an ihre Schuhe gewöhnen. Und zwanzig bis dreissig Prozent der Leuite würden nie einen Schuh passenden Schuh finden, weil ihre Fussform zu selten sei für die industriell hergestellten Schuhe.
Acht Leute kommen zusammen und produzieren einen handgefertigten, eigenen Schuh. Das Produkt ist höchst individuell, jeder Schuh ein Unikat. Der Weg dahin, das Lernen ist gemeinsam. Dazu gehören auch die Pausen, das Mittagessen, das die Gruppe selber organisiert, der Gedankenaustausch während der Arbeit.
Lebensqualität und Arbeit gehören für Franz Kälin zusammen. "Für mich lautet die Frage nicht: Wie viele Stunden arbeite ich? Sondern: Ist es Arbeit oder ist es Leben? Wenn es Leben ist, macht es nichts, wenn es sechzig Stunden sind..."
Was nicht heisst, dass Franz Kälin sechzig Stunden in der Werkstatt verbringt. Vor dem Fenster liegt der See, dahinter die Berge.
"Kürzlich habe ich auf einer Skitour einen wunderbaren Ahornbaum angeschaut. Unten die weit ausladenden Äste, oben die schön geformte Krone. Ich habe mir überlegt: Wie ist das bei uns, in unseren Schulen? Musik - und Werkunterricht sind an den Rand gedrängt, werden gestrichen. Wir schneiden die untersten Äste ab und lassen oben, wo der Kopf ist, ein Krönlein stehen. Ein Baum sähe fürchterlich aus, wenn er so beschnitten würde."
Draussen auf der Terrasse vor dem Atelier wird das Mittagessen aufgetragen. Manche Kursteilnehmer sind so in die Arbeit versunken, dass sie sich nur langsam von ihrem Tisch lösen.